Nachdenkliches und Wissenswertes

Auch Sie wollen niemandem zur Last fallen?

Dann nehmen Sie sich bitte ein paar Minuten Zeit für das Lesen dieses Textes.

Ein leeres Rasenfeld. Kein Stein, kein Kreuz, kein Name zeigt, dass Menschen hier begraben liegen. Das gibt es immer mehr auf unseren Friedhöfen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer:
"Anonyme Bestattung".
Ich weiß: Wer namenlos beerdigt wird, hat das zu Lebzeiten selbst bestimmt und gewollt. Klar, es gibt ja Gründe: manche haben niemanden mehr. Auch die Kosten für die Bestattung spielen eine Rolle. Aber vor allem die Einstellung: "Ich will doch niemanden zur Last fallen."
Ich verstehe das alles. Und ich find's trotzdem nicht gut. Kein Mensch ist doch so gering, dass er von sich denken darf: "Nichts soll an mich erinnern." Wie wir mit Sterben und Tod und dem Begräbnis umgehen, sagt eben viel darüber aus, wie wir leben, wie wichtig uns andere Menschen sind und wie wertvoll mein Leben ist. Ein ordentliches Grab hat für mich etwas mit Menschenwürde zu tun. Nicht das wir uns falsch verstehen: Ich will ja nicht, dass wir Pyramiden errichten wie für einen ägyptischen Pharao. Es gab und gibt um Tod und Beerdigung viel Prunk und Unnützes. Da sind wir zum Glück nüchterner geworden, gerade als Christin und Christen. Der Gott des Lebens will ja keinen Totenkult. Und die Liebe der Hinterbliebenen misst sich nicht an einem teurem Sarg oder an aufwendiger Grabpflege.
Aber: Ins andere Extrem zu verfallen, überhaupt keinen Ort zu haben zum Trauern das ist verkehrt. Wer kein Grab will, der versucht, glaube ich, Schmerz zu vermeiden. Ein Grab ist das deutlichste Zeichen, dass ein Leben zu Ende gegangen ist, dass ich Abschied nehmen muss. Trauern tut weh. Und das können wir nicht verhindern.
Das Grab ist vielleicht der Ort, wo ich diesen Schmerz auch zulassen kann wo es niemand übel nimmt wenn Tränen fließen. Trauern ist nicht mit der Beerdigung erledigt, das dauert Wochen und Monate, manchmal Jahre.
Wir brauchen diesen Ort für uns: um innezuhalten, um loszulassen, um zu erinnern. Wenn ich am Grab stehe, dann fühle ich noch mal Glück und Last mit Menschen die mir nahe sind. Mir wird klarer, was mit mir geht von dem, was wir gemeinsam erlebt haben.
Vielleicht kann ich verzeihen, endlich. Und mich freigesprochen fühlen von dem was zwischen uns offen blieb.
Natürlich weiß ich, dass Gräber Menschen auch festhalten können. Dass Sie gebannt zurückschauen und dabei erstarren. Dieser Zusammenhang von Nicht-loslassen-können und Erstarren wird am Anfang der Bibel ganz drastisch ausgemalt. Da ist eine Frau, die kann ihren Blick von der Vergangenheit nicht abwenden und da erstarrt sie zu einer Säule, wird zur "Salzsäule".
Sie schaut zurück, ist gerade gebannt von Leid und Tod der Menschen, mit denen sie zusammengelebt hat. Dadurch wird sie unfähig, ihren eigenen Weg weiterzugehen. Vielleicht kennen Sie die Geschichte von Lot's Frau.

Also: Gräber sind wichtig. Aber nicht weil sie uns auf die Vergangenheit festlegen. Sondern, weil sie unseren Blick nach vorn richten. Auch morgen am Totensonntag, wenn die Menschen auf die Friedhöfe gehen. Die Gräber können uns daran erinnern: Da ist mir jemand vorausgegangen. Wer gestorben ist, ist längst bei Gott angekommen.

Wort zum Sonntag, 19.11.1994, Pfarrerin Heidrun Dörken, Frankfurt/Main

Allerheiligen, 1. November Allerseelen, 2. November

November, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Noch einmal wirft ein großer Herbst das Licht des Nachsommers auf die sterbende Natur. November, Zeit der Totengedenken.

Den Anfang machen die katholischen Christen heute am Fest Allerheiligen. Entstanden aus heidnischem Totenkult, wurde es schon in der Urkirche gefeiert. Damals erinnerte es vor allem an die Märtyrer, die ihren Glauben an den neuen Erlöser mit dem Leben bezahlen mussten. Im Mittelalter wurden alle Heiligen einbezogen, so wie Albrecht Dürer es in seinem berühmten Gemälde dargestellt hat.

Allerheiligen ist untrennbar mit dem Gedenktag Allerseelen am 2. November verbunden. Die Liturgie verknüpft so die Gemeinschaft der Lebenden mit den Verstorbenen. Nicht zuletzt daher rührt der Brauch, zu Allerheiligen die Gräber mit Blumen und Lichtern zu schmücken.

Ein schöner Brauch, denn der Umgang mit den Toten spiegelt auch etwas von der Kultur der Lebenden. Er sollte uns teuer sein gerade in einer Zeit, die den Tod mehr und mehr aus dem Alltag verdrängt hat.

Volkstrauertag, 19. November

Ist der Volkstrauertag ein Tag der älteren Generation, der Kriegsgräberfürsorge?

Freiwillige Feuerwehr, Männerchöre. Es soll der Toten beider Weltkriege und der Opfer der nationalsozialistischen Barbarei gedacht werden. Es geht um historische Ereignisse, die fast zwei Generationen zurückliegen.

Wider das Vergessen – diese Devise wird von vielen belächelt. Manche sagen: Ich kann das alles nicht mehr hören. Selbst der Streit über die Wehrmachtsausstellung zeigte, wie schwierig es ist, mit Vergangenheit nach bestem Wissen und Gewissen umzugehen.

Historiker, die sich nun einmal mit Vergangenem beschäftigen, werden noch lange über unser Jahrhundert der Grausamkeiten nachsinnen. Aber diese Fragen sind keineswegs nur etwas für einen Kreis von Eingeweihten.

Es geht nicht um Heldenverehrung, um lautes Wehklagen. Es geht darum, dass nicht vergessen werden darf, welch tiefe Wunden Gewalt zwischen Völkern und Volksgemeinschaften schlagen.

Den Nachgeborenen zur Mahnung und deshalb auch ein Fall für die heutige Friedenspädagogik.

Buß- und Bettag, 22. November

Der Buß- und Bettag, den die evangelischen Christen heute begehen, ist nur noch in Sachsen ein gesetzlicher Feiertag. Die übrigen Länder haben ihn vor zwei Jahren zur Finanzierung der Pflegeversicherung abgeschafft.

Die Kirche kann sich mit dieser sozialpolitischen Entscheidung nur schwer abfinden, wie der Einspruch des EKD-Vorsitzenden Manfred Kock zeigt. Dennoch, selbst für viele Christen war und ist der Bußtag nur ein willkommener freier Tag in der Arbeitswoche. Sein religiöser Kern, die Umkehr aus dem Glauben, wie Luther sie verstand, ist für eine Gesellschaft der Rekordleister ohnehin in weite Ferne gerückt.

Luther hatte gegen Bußübungen protestiert, die den Kirchenbeutel durch Ablasshandel klingeln ließen. Er wollte Buße frei von menschlicher Gerichtsbarkeit, frei von Rechtfertigung in schuldhafter Ausnahmesituation.

Keine schlechte Botschaft. Sie zu beherzigen, braucht es keinen gesetzlichen Feiertag – auch wenn dessen Abschaffung jenem Trend folgte, der einer Aushöhlung traditionsbewusster Feiertagskultur immer mehr Vorschub leistet.

Totensonntag, 26. November

Das irdische Leben des Menschen ist begrenzt. Es ist, selbst vor dem uns fassbaren Weltenlauf der Geschichte betrachtet, nur von kurzer Dauer. Es währet, wie die Bibel sagt, siebzig Jahr‘, und wenn es hoch kommt, achtzig. . .

Die einen sehen in dieser zeitlichen Begrenzung die eigentlich tragische Dimension menschlicher Existenz. Der Dichter Elias Canetti zum Beispiel hat in seinem Werk unermüdlich gegen die Unabdingbarkeit des Sterben-müssens aufbegehrt. Er wollte sich nicht abfinden mit dem Tod, dem schrecklichen Gleichmacher.

Die anderen sehen im Tod das Tor zu einem neuen Leben. Der Totensonntag, an dem die evangelischen Christen morgen auf geschmückten Friedhöfen ihrer Verstorbenen gedenken, ist Ausdruck einer solchen Vision der Hoffnung. In manchen Gegenden nannte man diesen letzten Sonntag im Kirchenjahr früher Ewigkeitssonntag.

Ewigkeitssonntag, welch ein Versprechen liegt in diesem alten Wort – auch wenn die Endlichkeit unserer Vorstellungskraft es nicht ermessen kann.